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Nicaragua: Literaturfestival in einem Land ohne Bücher

Meldung vom 03.06.2015

Ein Literaturfestival in Nicaragua – und das, obwohl dort kaum einer Bücher lesen kann? Allen Schwierigkeiten zum Trotz findet seit 2013 hier das Literaturfestival „Centroamérica cuenta“ statt. Der Gründer ist der Autor und Politiker Sergio Ramírez.

Mitte Mai kamen nun zum dritten Mal in Nicaragua Autoren, Übersetzer, Verleger und Leser aus Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras, Nicaragua, Panama, Mexiko, Kolumbien zusammen. Sie tauschten sich über Literatur und die Probleme dieser vielfältigen von Migration, Korruption und Drogenhandel geprägten Region Lateinamerikas aus. Das Motto der diesjährigen Literaturtage „Palabras en Libertad“ („Worte in Freiheit“) ist eine Würdigung für die im Januar von Islamisten in Paris ermordeten Mitarbeiter der Zeitschrift Charlie Hebdo. Doch als dann dem eingeladenen französischen Karikaturisten von Charlie Hebdo, Jules Berjeaut, die Einreise nach Nicaragua verweigert wurde, bekam diese Forderung nach Meinungsfreiheit eine aktuelle Notwendigkeit.

Von der Regierung Daniel Ortegas wurde zuvor keine offizielle Erklärung zum Einreiseverbot des Karikaturisten Jules Berjeaut bekannt gegeben. Sergio Ramírez meint dazu: „Die Regierung ist mit der üblichen Arroganz aufgetreten. Sie liefert keine Erklärungen. Sie betreibt eine Politik der Geheimhaltung. Aber eigentlich war dieses Einreiseverbot eine völlig überflüssige Maßnahme der Intoleranz. Denn nicht nur im politischen Apparat, sondern auch in der Gesellschaft besteht bereits ein hoher Grad an Konformität. Die Opposition ist geschwächt.“

Trotz der politischen Schikanen ist das Projekt des Festivals gewachsen. Was vor drei Jahren zunächst als Experiment mit Unterstützung des Goethe-Instituts und der französischen Botschaft begann, wurde inzwischen zu einem Literaturtreffen mit vielen Gästen aus weiteren Ländern und einem umfangreicheren Veranstaltungsprogramm in Kulturzentren, Buchhandlungen, Schulen und Universitäten in Managua und Leon ausgeweitet. Wenn auch in Zukunft die Kosten für das Festival gedeckt werden, dann könnte sich „Centroamérica cuenta“ („Zentralamerika (er)zählt“) zu einem großen Kulturevent in Zentralamerika entwickeln. In Planung seien etwa eine eigene Buchmesse und ein jährliches Kinoprogramm mit zentralamerikanischen Filmen.

Zwischen 1986 und 1990 übte Ramírez das Amt des Vizepräsidenten der ersten sandinistischen Regierung aus. 1995 kam es wegen seiner Bemühungen um demokratische Reformen zum Streit mit Daniel Ortega. Im Programm der diesjährigen Literaturtage äußert sich der ehemalige Politiker dazu: „Ich glaube, in diesem ungewiss anbrechenden 21. Jahrhundert ist die Kultur die Zeit Zentralamerikas, nach der wir unsere Uhren stellen müssen.“

Die Kultur bietet viele neue Möglichkeiten im Vergleich zur Politik. „Bis heute hat die Politik in Zentralamerika die Gewohnheit eher ausgrenzend und trennend zu wirken. Kultur und Literatur sind dagegen integrativer, sie haben die Fähigkeit zu verbinden. Weil sie nicht ideologisch oder parteipolitisch ist, kann Kultur Leute mit sehr unterschiedlichen Denkweisen erreichen. Besonders die Literatur lehrt uns, frei zu denken. Deshalb muss man gerade in Zentralamerika die Kultur mit der Politik kreuzen“, meint Ramírez.

Dabei hat auch die sandinistische Regierung dazu beigetragen, dass in der Bevölkerung eine Grundlage für Literatur und Kultur geschaffen wurde. Die 1980 initiierte Alphabetisierungskampagne war vielleicht die größte Errungenschaft der sandinistischen Revolution.

Doch welchen Stellenwert haben Bücher und das Lesen in der heutigen Bevölkerung von Nicaragua? „Ich würde sagen, keine sehr große. Denn in Nicaragua ist die Gesellschaft nach wie vor eine sehr ungleiche. Hier gibt es wenige Reiche, eine kleine Mittelschicht und die unendliche Masse von Menschen, die mit weniger als umgerechnet zwei Dollar täglich überleben müssen, die Hälfte der Bevölkerung. In vielen Familien arbeiten alle mit. Drei Löhne sind notwendig, nur um den Bedarf der Grundnahrungsmittel zu decken. Da gibt es keinen Platz für Bücher. Außerdem können immer noch große Teile der Gesellschaft weder lesen noch schreiben. Das ist die Realität, mit der wir Schriftsteller uns konfrontiert sehen“, sagt Ramírez.

Zu der Vergangenheit und Zukunft Zentralamerikas stellt Ramírez fest, dass die Politik bisher eher Spaltung betrieben hat. Seit der Unabhängigkeit feinden sich die Länder gegenseitig an. Oftmals sind geringfügige Angelegenheiten wie etwa einzelne Grenzverläufe der Auslöser. Die großen gemeinsamen Probleme – etwa derzeit Arbeitslosigkeit, Drogenhandel und Migration – werden nicht angetastet. Die großen Herausforderungen Zentralamerikas kann man aber nur gemeinsam meistern.

Ramírez betont: „Es ist eine Illusion zu glauben, Zentralamerika wäre ohne eine gemeinsame Identität überlebensfähig. In einer globalisierten Welt haben so kleine Länder wie die zentralamerikanischen sehr wenig Zukunft. Zusammen aber zählen wir 40 Millionen Einwohner. Gemeinsam würden wir über beträchtliche Ressourcen verfügen, wenn die Staaten sich durch ihre Egoismen nicht dauernd gegenseitig ausbremsen würden. Deswegen sehe ich hier die Kultur, natürlich unter Einbeziehung der Bildung, in einer bedeutenden Rolle.“

Die Literaturtage in Managua boten ebenfalls eine Plattform zum Austausch mit Übersetzern und Literaturwissenschaftlern aus Frankreich, Deutschland, Spanien und Holland. So befasste man sich auf einem Symposium zur Literatur aus Zentralamerika und ihrer europäischen Rezeption mit dem Phänomen, warum nach dem Boom der 1970er und 1980er Jahre mit Autoren wie Gabriel García Márquez, Ernesto Cardenal oder Gioconda Belli Literatur aus Lateinamerika nie wieder vergleichbare Begeisterung in Europa wecken konnte.

Ramírez stuft das als ein kommerzielles Phänomen ein. Die Literatur Lateinamerikas erschien in einem bestimmten Moment auf dem europäischen Buchmarkt. Sie entpuppte sich zu einer Marke – dem magischen Realismus. Diese Festlegung habe aber alle anderen Ausdrucksformen in den Hintergrund gedrängt, weil man nun vielerorts nur den magischen Realismus mit lateinamerikanischer Literatur in Verbindung brachte. Ramírez sieht jedoch neue Chancen für die lateinamerikanische Literatur: „Ich glaube aber, dass im 21. Jahrhundert die literarischen Themen im Vordergrund stehen und nicht die nationale Identität oder die Tatsache, Lateinamerikaner zu sein. Ich vertraue darauf, dass dies von den Lesern auch wahrgenommen wird.“




Quelle: Gebende Hände-Redaktion; nach einer Information von: „Die Tageszeitung“, taz.de

Schlagwörter: Nicaragua, Literatur, Literaturfestival, Sergio Ramírez, Autoren, Kultur, Managua, Pressefreiheit, Daniel Ortega, Sandinisten, Zentralamerika, Buchmarkt, Analphabetismus, Armut, Bücher, Alphabetisierungskampagne, Gabriel García Márquez, Gioconda Belli, Migration, Arbeitslosigkeit, Drogenhandel