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Äthiopien: Immer mehr ein Pulverfass |
Meldung vom 31.10.2024
In immer mehr Regionen des riesigen ostafrikanischen Staates greifen Konflikte um sich. Vor ethnischer Gewalt Geflohene bergen sich in Zeltstädten – aber längst sind auch die Helfer Ziel von Angriffen.
Äthiopien ist ein Vielvölkerstaat in Ostafrika, die mehr als 125 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner verteilen sich auf über achtzig Ethnien. Seit einigen Jahren spitzen sich die Spannungen zwischen unterschiedlichen Volksgruppen zu. Das lässt sich auch auf die Machtpolitik von Ministerpräsident Abiy Ahmed zurückführen, der die Regierungsgeschäfte seit 2018 innehat. Abiy will die Macht in dem Vielvölkerstaat stringenter an sich reißen. Außerdem stachelt er die Rivalitäten zwischen den unterschiedlichen Gruppen an, um seine Macht zu konsolidieren. Inzwischen ist die staatliche Ordnung in mehreren Regionen praktisch zusammengebrochen.
Seine Nachbarn hätten ab 2020 immer mehr Hetze gegen die Amhara betrieben, erzählt Kuleinau Abbire, ein Mann Mitte fünfzig. 2022 dann hätten unbekannte Täter die sieben Kinder seiner Schwester ermordet. „Sie waren im Haus, tranken zusammen Kaffee“, berichtet er. Als sie einen Schuss gehört hätten, seien sie nach draußen gerannt, um zu erfahren, was passiert sei. „Sie wurden alle niedergeschossen.“ Alle Opfer waren Zivilisten. Nur seine Schwester sei lebend entkommen, mit einer Schussverletzung im linken Bein.
Kuleinau vermutet, dass die Angreifer von der Miliz OLA waren, der Befreiungsarmee der Oromo. Deren Ziel ist die Abspaltung von Äthiopien als ein unabhängiger Staat für das Volk der Oromo, das ihrer Ansicht nach in Äthiopien diskriminiert wird. Dafür ziehen die OLA und ihr politischer Flügel OLF seit Jahrzehnten in den Krieg und verstärkt wieder seit 2020.
Die OLA nutzte aus, dass die äthiopische Armee von 2020 bis Ende 2022 durch den Krieg in der Region Tigray beschäftigt war. Dort trat sie an der Seite von Amhara-Milizen und eritreischen Soldaten gegen die Regionalregierung von Tigray und deren Armee an. Beide Seiten verwickelten sich in schwere Kriegsverbrechen, Abiy verwendete den Hunger als Kriegsstrategie. Dieser Krieg hatte Schätzungen zufolge mindestens 600.000 Opfer zur Folge, die meisten von ihnen Zivilisten.
Der Krieg in Tigray wurde Ende November 2022 niedergelegt, trotzdem kommt Äthiopien nicht zur Ruhe. Abiys Regierung muss sich nun in Oromia und Amhara um Aufstände kümmern. Die ethnische Gewalt in vielen Landesteilen wächst. Internationale Menschenrechtsorganisationen kritisieren die Regierung, in ihrem Durchgreifen gegen Aufständische Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht zu missachten. Amnesty International prangert zum Beispiel „willkürliche Massenverhaftungen“ an. Human Rights Watch gab im Juli 2025 einen Bericht heraus, in dem die Organisation auf gezielte Angriffe von Angehörigen der äthiopischen Armee auf medizinische Einrichtungen und medizinisches Personal hinwies.
Mohamed Abdullahi zwängt sich zwischen Bastmatten und Stapeln aus Decken und anderen Habseligkeiten hindurch. Der Lärm von Hunderten von Stimmen scheint an ihm abzuprallen. Seit zwei Jahren haust der 65-Jährige mit Hunderten anderen Vertriebenen in einer verwaisten Fabrikhalle in Debre Birhan, einer Industriestadt gut hundert Kilometer von Addis Abeba entfernt. Um die Halle herum wurden etliche provisorische Zeltstädte errichtet. Nach Angaben von Hilfsorganisationen sind hier 22.000 Vertriebene untergekommen. Im Februar belief sich die Zahl noch auf 30.000.
Mohamed bleibt vor einer der bunten Matten stehen: Hier hat er mit seiner Familie Schutz gesucht. So eng und laut das Camp auch ist, er möchte auf jeden Fall hier bleiben. Und ganz sicher versucht er alles, um einer Rückkehr nach Oromia zu entgehen. Doch Mohamed hat Furcht, dass man ihn dorthin wieder abschieben wird. Im Februar, so erzählt er, hätten Vertreter der Regierung damit begonnen, Menschen aus den Zeltstädten in Debre Birhan einzusammeln, in Busse zu setzen und nach Oromia zu überführen. „Ich fürchte um unsere Leben, wenn wir dorthin zurückgeschafft werden“, meint er.
Vor ihrer Flucht vor mehr als zwei Jahren seien Bewaffnete – vermutlich von der OLA-Miliz – in ihr Dorf eingedrungen und hätten willkürlich Menschen erschossen. Eine seiner Töchter sowie seine Schwester seien im Kugelhagel ums Leben gekommen. In den Monaten davor hatten er und seine Nachbarn die Regionalregierung von Oromia erfolglos gebeten, ihnen Hilfe zukommen zu lassen. Wer würde sie denn schützen, wenn sie dorthin abgeschoben würden?
Angst machten ihnen aber nicht nur die Gewalt der Miliz, sondern auch der Hunger, sagt Shause Mohamed, der dem Gespräch gefolgt ist. Bis zu seiner Flucht verdingte sich Shause als Händler in dem Ort Welega in Oromia, die übrigen Familienmitglieder betrieben Landwirtschaft. Wegen der Gewalt und der ständigen Bedrohung habe sich niemand mehr auf den Acker getraut. „Wir hatten kein Einkommen mehr, wir haben gehungert. Auch deshalb sind wir geflohen“, sagt Shause.
Als Folge der vielen regionalen Konflikte in Äthiopien sind nach Angaben der UN landesweit 4,4 Millionen Menschen Vertriebene. Die Zahl derjenigen, die von der Versorgung durch Hilfsorganisationen abhängt, ist noch viel höher: Es sind mindestens 21 Millionen der etwa 125 Millionen Äthiopier. Fast 16 Millionen davon benötigen dringend Lebensmittel, um überleben zu können. Allerdings fehlen der UN die Finanzen; von den für das laufende Jahr benötigten 3,2 Milliarden Dollar hat die UN bisher nach eigenen Angaben nur 20 Prozent erhalten.
Zudem wird es für die Helfenden immer riskanter, zu den Notleidenden zu gelangen. „Hilfskonvois werden regelmäßig angegriffen und geplündert“, berichtet Paul Handley, der Leiter des UN-Büros für Humanitäre Angelegenheiten in Addis Abeba. Zur politischen Gewalt verzeichne man einen drastischen Zuwachs an Kriminalität, der Bevölkerung und Helfer treffe. Zu Beginn des Jahres habe das größte Risiko für humanitäre Helfer darin bestanden, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, sagt Handley. „Inzwischen stellen wir fest, dass kriminelle Banden gezielt humanitäre Helfer ins Visier nehmen und entführen oder gar töten.“
Quelle: Gebende Hände-Redaktion; nach einer Information von: „Neue Zürcher Zeitung, NZZ Online“, nzz.ch
Schlagwörter: Äthiopien, ethnische Konflikte, Krieg, Unruhen, Abyi Ahmed, Tigray, Gewalt
Äthiopien ist ein Vielvölkerstaat in Ostafrika, die mehr als 125 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner verteilen sich auf über achtzig Ethnien. Seit einigen Jahren spitzen sich die Spannungen zwischen unterschiedlichen Volksgruppen zu. Das lässt sich auch auf die Machtpolitik von Ministerpräsident Abiy Ahmed zurückführen, der die Regierungsgeschäfte seit 2018 innehat. Abiy will die Macht in dem Vielvölkerstaat stringenter an sich reißen. Außerdem stachelt er die Rivalitäten zwischen den unterschiedlichen Gruppen an, um seine Macht zu konsolidieren. Inzwischen ist die staatliche Ordnung in mehreren Regionen praktisch zusammengebrochen.
Seine Nachbarn hätten ab 2020 immer mehr Hetze gegen die Amhara betrieben, erzählt Kuleinau Abbire, ein Mann Mitte fünfzig. 2022 dann hätten unbekannte Täter die sieben Kinder seiner Schwester ermordet. „Sie waren im Haus, tranken zusammen Kaffee“, berichtet er. Als sie einen Schuss gehört hätten, seien sie nach draußen gerannt, um zu erfahren, was passiert sei. „Sie wurden alle niedergeschossen.“ Alle Opfer waren Zivilisten. Nur seine Schwester sei lebend entkommen, mit einer Schussverletzung im linken Bein.
Kuleinau vermutet, dass die Angreifer von der Miliz OLA waren, der Befreiungsarmee der Oromo. Deren Ziel ist die Abspaltung von Äthiopien als ein unabhängiger Staat für das Volk der Oromo, das ihrer Ansicht nach in Äthiopien diskriminiert wird. Dafür ziehen die OLA und ihr politischer Flügel OLF seit Jahrzehnten in den Krieg und verstärkt wieder seit 2020.
Die OLA nutzte aus, dass die äthiopische Armee von 2020 bis Ende 2022 durch den Krieg in der Region Tigray beschäftigt war. Dort trat sie an der Seite von Amhara-Milizen und eritreischen Soldaten gegen die Regionalregierung von Tigray und deren Armee an. Beide Seiten verwickelten sich in schwere Kriegsverbrechen, Abiy verwendete den Hunger als Kriegsstrategie. Dieser Krieg hatte Schätzungen zufolge mindestens 600.000 Opfer zur Folge, die meisten von ihnen Zivilisten.
Der Krieg in Tigray wurde Ende November 2022 niedergelegt, trotzdem kommt Äthiopien nicht zur Ruhe. Abiys Regierung muss sich nun in Oromia und Amhara um Aufstände kümmern. Die ethnische Gewalt in vielen Landesteilen wächst. Internationale Menschenrechtsorganisationen kritisieren die Regierung, in ihrem Durchgreifen gegen Aufständische Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht zu missachten. Amnesty International prangert zum Beispiel „willkürliche Massenverhaftungen“ an. Human Rights Watch gab im Juli 2025 einen Bericht heraus, in dem die Organisation auf gezielte Angriffe von Angehörigen der äthiopischen Armee auf medizinische Einrichtungen und medizinisches Personal hinwies.
Mohamed Abdullahi zwängt sich zwischen Bastmatten und Stapeln aus Decken und anderen Habseligkeiten hindurch. Der Lärm von Hunderten von Stimmen scheint an ihm abzuprallen. Seit zwei Jahren haust der 65-Jährige mit Hunderten anderen Vertriebenen in einer verwaisten Fabrikhalle in Debre Birhan, einer Industriestadt gut hundert Kilometer von Addis Abeba entfernt. Um die Halle herum wurden etliche provisorische Zeltstädte errichtet. Nach Angaben von Hilfsorganisationen sind hier 22.000 Vertriebene untergekommen. Im Februar belief sich die Zahl noch auf 30.000.
Mohamed bleibt vor einer der bunten Matten stehen: Hier hat er mit seiner Familie Schutz gesucht. So eng und laut das Camp auch ist, er möchte auf jeden Fall hier bleiben. Und ganz sicher versucht er alles, um einer Rückkehr nach Oromia zu entgehen. Doch Mohamed hat Furcht, dass man ihn dorthin wieder abschieben wird. Im Februar, so erzählt er, hätten Vertreter der Regierung damit begonnen, Menschen aus den Zeltstädten in Debre Birhan einzusammeln, in Busse zu setzen und nach Oromia zu überführen. „Ich fürchte um unsere Leben, wenn wir dorthin zurückgeschafft werden“, meint er.
Vor ihrer Flucht vor mehr als zwei Jahren seien Bewaffnete – vermutlich von der OLA-Miliz – in ihr Dorf eingedrungen und hätten willkürlich Menschen erschossen. Eine seiner Töchter sowie seine Schwester seien im Kugelhagel ums Leben gekommen. In den Monaten davor hatten er und seine Nachbarn die Regionalregierung von Oromia erfolglos gebeten, ihnen Hilfe zukommen zu lassen. Wer würde sie denn schützen, wenn sie dorthin abgeschoben würden?
Angst machten ihnen aber nicht nur die Gewalt der Miliz, sondern auch der Hunger, sagt Shause Mohamed, der dem Gespräch gefolgt ist. Bis zu seiner Flucht verdingte sich Shause als Händler in dem Ort Welega in Oromia, die übrigen Familienmitglieder betrieben Landwirtschaft. Wegen der Gewalt und der ständigen Bedrohung habe sich niemand mehr auf den Acker getraut. „Wir hatten kein Einkommen mehr, wir haben gehungert. Auch deshalb sind wir geflohen“, sagt Shause.
Als Folge der vielen regionalen Konflikte in Äthiopien sind nach Angaben der UN landesweit 4,4 Millionen Menschen Vertriebene. Die Zahl derjenigen, die von der Versorgung durch Hilfsorganisationen abhängt, ist noch viel höher: Es sind mindestens 21 Millionen der etwa 125 Millionen Äthiopier. Fast 16 Millionen davon benötigen dringend Lebensmittel, um überleben zu können. Allerdings fehlen der UN die Finanzen; von den für das laufende Jahr benötigten 3,2 Milliarden Dollar hat die UN bisher nach eigenen Angaben nur 20 Prozent erhalten.
Zudem wird es für die Helfenden immer riskanter, zu den Notleidenden zu gelangen. „Hilfskonvois werden regelmäßig angegriffen und geplündert“, berichtet Paul Handley, der Leiter des UN-Büros für Humanitäre Angelegenheiten in Addis Abeba. Zur politischen Gewalt verzeichne man einen drastischen Zuwachs an Kriminalität, der Bevölkerung und Helfer treffe. Zu Beginn des Jahres habe das größte Risiko für humanitäre Helfer darin bestanden, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, sagt Handley. „Inzwischen stellen wir fest, dass kriminelle Banden gezielt humanitäre Helfer ins Visier nehmen und entführen oder gar töten.“
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Quelle: Gebende Hände-Redaktion; nach einer Information von: „Neue Zürcher Zeitung, NZZ Online“, nzz.ch
Schlagwörter: Äthiopien, ethnische Konflikte, Krieg, Unruhen, Abyi Ahmed, Tigray, Gewalt